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Vom Protest zur Partei (Schwäbische, 2.5.2016)

Sie sitzen auf 2400 Stühlen. Geduldig und über Stunden. Und weil der Platz nicht reicht in der Messehalle C1 am Stuttgarter Flughafen, stehen sie auch noch an den Wänden. Männer, viele Männer. Vorne, auf der Bühne, im Bundesvorstand der AfD, sitzen im Verhältnis viel mehr Frauen: Frauke Petry, Beatrix von Storch und Alice Weidel.


Die Luft ist zum Schneiden. Und immer dann, wenn einer etwas besonders Wichtiges sagt, wenn es um den "ethnischen Abgrund" in Deutschland geht oder wenn über die "Konsensparteien" hergezogen wird, also über alle, die nicht so sind wie sie, dann scheint die Luft noch dicker zu werden. Denn dann springen viele der Mitglieder, die aus dem ganzen Land nach Stuttgart gekommen sind, auf, klatschen und skandieren "AfD, AfD, AfD".


Der fünfte Bundeskongress der Partei, die vor einem Jahr noch weniger als fünf Prozent der Wähler an sich band, jetzt aber in vielen Landtagen sitzt, will sich ein Grundsatzprogramm geben. Damit endlich allen draußen im Land klargemacht werden kann, wofür man steht: wie mit der EU und der Nato umgegangen werden soll, wie mit den vielen Migranten und dem Islam.


Viel Zorn


Was da am Wochenende an den Saalmikrofonen zur Geschäftsordnung und zu viel heikleren Themen gesagt wird, lässt aber ahnen, dass vor allem die Partei selbst sich Klarheit verschaffen muss. Es ist viel Zorn zu hören, wie den des 25-Jährigen, der auf den Stufen vor der Messehalle erklärt: "Ich mache mir echt Sorgen um dieses Land, alles geht bergab."


Die der AfD nachgesagte Mischung aus Revolutionärem und Reaktionärem war in der Messehalle, von wo man Germanwings-Flugzeuge von der nahen Startbahn abheben sehen kann, nicht wirklich zu spüren. Mehr als 1500 Seiten Ergänzungsanträge waren eingereicht worden, eine immense Organisation war notwendig, um all die Änderungen am Grundsatzprogramm zu diskutieren und zu verabschieden.


Die Menschen im Saal sind die Empörten, Beamte, Unternehmer, Rentner, schrullige Alte wie die Dame mit einer blauen Perücke in den Farben der AfD. Man will Mitsprache, rebelliert auch schon mal gegen den Bundesvorstand da oben und will sich "das Denken nicht vom Parteivorstand abnehmen lassen", wie ein Parteimitglied sagt. Aus manchen Wortbeiträgen ist aber derart viel Verwirrung und Wirres zu hören, dass die Petrys und Gaulands oben auf der Bühne manchmal wie Stimmen der Vernunft wirken müssen. Und wie ist das mit dem Grundsatzprogramm, den großen Zielen? Rein oder raus aus der Nato, kostenlosen Kindergartenplätzen oder dem Bau von Minaretten? Einer aus dem Bundesvorstand winkt bei der Zigarettenpause in einer leeren Messehalle am Samstagabend ab und sagt: "Programm ist doch geduldig."


Der frühere CDU-Mann und Grandseigneur Alexander Gauland stilisiert in seiner Eröffnungsrede den Parteitag zu einem Schicksalstreffen, bei dem es nicht nur um die Partei gehe, sondern um Deutschland und nicht zuletzt um Europa.


Vaclav Klaus, früherer tschechischer Präsident, der vor den Vereinten Nationen den Klimawandel leugnete, reißt die AfDler zu Begeisterungsstürmen hin. Mit vielen Themen stimme er ja voll und ganz überein, sagt der Mann, den der "Spiegel" einmal als "ideologischen Triebtäter" diagnostizierte. Klaus schnurrt in den Saal, dass die "Stufe der Dämonisierung" durch die Politik und die Medien absurd, falsch und lügenhaft sei. Der Mann, dessen Stimme wechselweise an den braven Soldaten Schwejk und an Pilsner Urquell erinnert, zeichnet die große Linie, er gibt den bewegten Parteimitgliedern das Gefühl, auch sie könnten es irgendwann einmal so weit schaffen wie er.


Diese Partei sei, hat Paul Hampel, ehemaliger ARD-Korrespondent in Asien und heute Mitglied im Bundesvorstand, geschrieben, die "natürliche Nachfolgepartei von CDU und FDP". Alles, was diese Parteien in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen hätten, sei Murks, sagen viele AfDler. Dass aber diese Menschen aus einem exzellenten deutschen Bildungssystem kommen, dass sie erfolgreiche Unternehmer oder engagierte Beamte sind, wird ihrer Eigeninitiative zugeschrieben. Sie haben all das erreicht trotz und nicht wegen dieses Staates und der "Konsensparteien".
In den neuesten Pressemitteilungen der AfD dominieren negative Begriffe: vom Hereinfallen, von purer Geldverschwendung, sozialistischer Abschottung, Versagen oder Heuchelei ist da die Rede. Man sieht sich in der Tradition der Revolutionen von 1848 und 1989, ähnlich wie die Pegida, die zu Montagsdemonstrationen aufruft wie weiland die DDR-Opposition.


Man braucht die Medien


Das Verhältnis der Parteioberen zu den Medien, die ja eigentlich nach AfD-Lesart ihre Macht missbrauchen und lügen, hat sich verändert: Ganz schnell haben Leute wie Alice Weidel verstanden, dass sie und ihre Partei die Medien brauchen. Vor einem Jahr noch, auf dem Parteitag, bei dem Parteigründer Lucke in die Wüste geschickt worden war, hat Weidel die Medien diffamiert. In Stuttgart parliert die Überlingerin beim Presseempfang mit manchen Journalisten wie mit alten Bekannten. Es scheint gar, als dankten manche der AfD-Spitze diese neue Anhänglichkeit. Man redet bei Trollinger und Stuttgarter Hofbräu angeregt, Alexander Gauland im Tweed-Jackett und mit wasserblauen Augen begrüßt eine Journalistin jovial mit dem Satz: "Und Sie trauen sich hierher?"


Frauke Petry sagt mit spöttisch-stechendem Blick, man sei auch hier, um sich aneinander zu gewöhnen. Schließlich sei das Verhältnis der AfD und der Medien nicht immer spannungsfrei gewesen. Das mit der Gewöhnung klingt wie eine Drohung, den umstehenden AfDlern mag es wie eine Verheißung scheinen. Petry dreht ihr leeres Wasserglas gekonnt zwischen den Fingern, sie fixiert ihr Gegenüber, setzt hier ein Lächeln, dort eine schnippisch vorgeschobene Lippe ein, faucht, als sie etwas Kritisches über den russischen Präsidenten Wladimir Putin sagt, das dürfe aber auf keinen Fall zitiert werden. Die Pastorenfrau, die sich unter großer Anteilnahme der Boulevardmedien von ihrem Mann getrennt hat, weiß um ihre Wirkung. Sie weiß aber auch, dass ihr keine Mehrheit der 20 000 Parteimitglieder sicher ist, weil sie sich nach dem Geschmack vieler in der Partei zu sehr in Szene setzt.


Die sanfte Stimme der AfD


Jörg Meuthen dagegen, Oppositionsführer im Stuttgarter Landtag und neben Petry zweiter Bundesvorsitzender, ist die sanfte Stimme der AfD. Er gibt den professoralen Kumpel mit Bierbauch und flüchtig gebügeltem Hemd. Beim Presseempfang der AfD-Führung am Abend vor dem Parteitag ist er jovial, diskutiert den Mindestlohn und spricht vom Erregungszustand, aus dem man am nächsten Tag viele der Parteimitglieder herausholen wolle. Doch an diesem nächsten Tag bringt Meuthen mit sonorer Stimme und perfekten rhetorischen Pausen die Parteimitglieder in Wallung: das Gerede in den Medien von der Ausländerfeindlichkeit der AfD sei doch "schiere Lüge und Mumpitz". Dieses Land, unser Deutschland, sei "links-rot-grün verseucht oder versifft".


Meuthen behauptet von sich, er sei eher bedächtig, während "die Frau Petry" die Temperamentvollere sei. Dabei sagen die beiden sehr ähnliche Dinge. Nur liegen Aggressivität und Selbstmitleid bei Frauke Petry offen aus, bei Meuthen dagegen sind sie väterlich-liebevoll verpackt.
In ihrer Grundsatzrede auf dem Parteitag stilisiert Petry "die öffentliche Verlogenheit" zur Staatskrise. Ihre Partei agiere "in der stickigsten geistigen Atmosphäre", die Deutschland in den letzten Jahrzehnten erlebt habe. Frauke Petry, muss man wissen, wurde in Dresden geboren, als es noch die DDR gab. Kurz vor dem Mauerfall 1989 zog die Jugendliche ihrem geflohenen Vater in den Westen hinterher. Die Biologin, die beinahe Kirchenmusikerin geworden wäre, denkt und redet wie in einem geschichtsfreien Raum. Sie wünsche sich, sagt die Kritikerin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dass bald, wenn man den Begriff ARD in eine Suchmaschine eingebe, automatisch die Abkürzung AfD ausgespuckt werde.


"Antifa-Bodentruppen"


Vor Beginn des Bundesparteitages hatte es am Samstagmorgen Demonstrationen gegeben: Gleich neben der Ruine eines Bürogebäudes und dem Hotel Mövenpick war "das rechte Pack" empfangen worden, Pfefferspray kam zum Einsatz, mehrere Hundert Demonstranten wurden vorübergehend in Gewahrsam genommen. In Petrys Rede voller Pathos werden die Demonstranten dann zu "Antifa-Bodentruppen der Konsensparteien".


Der Volkswirt Meuthen dagegen wechselt seine Masken: Die eine trägt er für die Massen, wenn er über den Fahrplan für ein anderes Deutschland doziert, das er will. Die andere hat er im persönlichen Gespräch auf. Da ist er der gesellige Typ, dem es ja auch nicht behagt, dass in der AfD auch Rassisten sind und solche, die sich nicht klar von Faschisten abgrenzen. "Der wächst über sich hinaus", sagt einer aus dem Bundesvorstand anerkennend.


Neulich ist Meuthens neunjährige Tochter sehr wütend aus der Schule gekommen. Man hatte sie gehänselt und das Mädchen hatte den Vater stolz verteidigt. Was war geschehen? Ihr Vater sei bei den Nazis, hätten die anderen gesagt. Das stimme doch nicht, habe das Mädchen empört erwidert. Meuthen erzählt das, grinst und trinkt sein Glas Stuttgarter Hofbräu.

Interview mit Steinmeier: Die Welt erwartet mehr von uns (Schwäbische, 16.4.2016)

Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach mit Christoph Plate, stellvertretender Chefredakteuer der "Schwäbischen Zeitung", über die Rolle Deutschlands in der Außenpolitik, über Verunsicherungen in der Bevölkerung und über Gelassenheit im Job.


Herr Steinmeier, in der Abschlusserklärung der G7 in Hiroshima wird Russland für seine Desinformationskampagnen und die Drangsalierung Oppositioneller kritisiert. Das sind deutliche Worte, obwohl über die Rückkehr Moskaus in diese Gruppe diskutiert wird.


G7 ist kein Selbstzweck! Es muss unser Ziel bleiben, dass wir wieder zum G8-Format zurückkehren. Viele Konflikte rund um den Erdball zeigen, dass eine Lösung ohne Russland nicht oder nur schwer möglich ist. Russland hat positiv mitgewirkt beim Atomvertrag mit Iran und ist in Genf bei den Beratungen über Syrien dabei. Allerdings: Das Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine ist die entscheidende Frage, und da erwarten wir Bereitschaft und Engagement Moskaus, die Minsker Vereinbarungen baldmöglichst umzusetzen. Daneben hat uns der Ukraine-Konflikt erkennen lassen, in welchem Maße mittlerweile die Instrumente der sozialen Medien politisch gebraucht und missbraucht werden. Wir müssen Russland dazu bringen, Regeln zum Umgang mit diesen neuen Formen der Kommunikation anzunehmen.


Zu diesen Regeln müsste dann gehören, diese Art der hybriden Kriegsführung zu unterlassen. Und müsste es Ihr russischer Amtskollege Lawrow nicht unterlassen, etwa den Fall einer dreizehnjährigen Russlanddeutschen zur diplomatischen Affäre zu machen?


Der Fall ist erledigt. Aber so absurd die Geschichte war: Wir können nicht akzeptieren, dass die Öffentlichkeit in Deutschland mit Fehlinformationen über angebliche Sexualdelikte von Migranten verunsichert wird. Erst recht dann nicht, wenn sich offizielle russische Stellen an ihrer Verbreitung beteiligen. Ich habe das in aller Offenheit mit meinem russischen Kollegen besprochen.


Beobachten Sie bei sich und Mitgliedern der Bundesregierung ein geschärftes Bewusstsein für Desinformation?


Sicher, und man passt natürlich das eigene Verhalten an, verändert die eigene Kommunikation, wählt die technischen Mittel und Kanäle sorgfältiger aus. Wir müssen davon ausgehen, dass es auf offenen Leitungen häufig mehr als nur die zwei Partner gibt, die miteinander sprechen.

 

Bemerken Sie bei Wählern und Bürgern Verunsicherung über Kampagnen in sozialen Medien?
Gerade die Jüngeren, die die sozialen Medien intensiv nutzen, haben wahrscheinlich schon die Erfahrung gemacht, dass Kommentare im Internet gelegentlich gesteuert werden oder einer eigenen Dynamik folgen. So entstehen dann eben "Hypes" und die Erfahrung von "Shit Storms" hat auch schon der ein oder andere gemacht.


Bundespräsident Gauck hat 2014 in einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz ein Ende des Abseitsstehens der deutschen Außenpolitik gefordert. Wie weit sind wir damit?
Ich habe im Dezember 2013 am Tag meiner Amtsübernahme im Auswärtigen Amt gesagt, dass wir zu groß, wirtschaftlich zu wichtig und demokratisch zu stabil sind, als dass wir das Weltgeschehen nur von der Außenlinie kommentieren dürfen. Die Welt erwartet mehr von uns. Es wäre allerdings ein Missverständnis, wenn man Verantwortung gleichsetzt mit militärischem Engagement.


Lautete der Vorwurf an Deutschland nicht immer, dass wir uns nur bei Verhandlungen einbringen?


Was heißt "nur"? Wir haben uns früher nicht getraut, auch politisch-diplomatisch in die vorderste Reihe zu gehen, wenn es um die politische Vermittlung in Konflikten ging. Im Fall der Ukraine und Syriens ist das jetzt anders. Im Übrigen: Wenn wir den Verlauf von Konflikten in den letzten 15 Jahren analysieren, sehen wir, dass es doch nicht an militärischen Aktivitäten mangelte. Im Gegenteil: Unüberlegte militärische Aktivitäten, wie die im Irak und Libyen, haben nicht zur Stabilisierung beitragen, sondern die Lage noch verschlechtert. Das aktuellste Beispiel ist Libyen: Man kann einen Militäreinsatz schnell beschließen und einen Autokraten wie Gaddafi beseitigen. Wenn aber der Schritt danach nicht vorbereitet ist, dann geht Staatlichkeit und Stabilität verloren, die gar nicht oder nur schwer wieder herzustellen ist. Mühsam und in kleinsten Schritten versuchen wir jetzt dort, den völligen Zerfall des Landes zu verhindern.


Sie sprechen von der Verunsicherung der Bevölkerung über die vielen Konflikte. Fällt es Ihnen heutzutage leichter, als in Ihrer ersten Amtszeit von 2005 bis 2009, zu erklären, was Sie als Außenminister machen?


Natürlich freue ich mich, dass das Interesse an Außenpolitik gestiegen ist. Wenn sich aber die Menschen intensiv für Außenpolitik zu interessieren beginnen, ist das selten ein gutes Zeichen für den Zustand der Welt. Was man begreiflich machen kann, ist, dass wir uns nicht raushalten und wegducken können. Dass es außerdem keine entfernten Konflikte mehr gibt, denen wir nur gelassen im Fernsehen zuschauen können. Die Konflikte erreichen uns, über Flüchtlingsbewegungen oder den Terrorismus. Deshalb verstehen viele Menschen, dass wir Verantwortung für Nichtstun genauso häufig tragen wie für unser Tun.


Bedeutet das gesteigerte Interesse auch mehr Kritik? Muss der Außenminister sich häufiger rechtfertigen, etwa für den EU-Türkei-Pakt in der Flüchtlingspolitik?


Die Menschen sind heute informierter. Das stellt neue Anforderungen an die Politik. Wir müssen erklären, warum Deutschland seine außenpolitischen Beziehungen nicht allein auf Länder mit stabilen Demokratien beschränken darf. Wir müssen Politik auch mit denjenigen machen, die wir brauchen, um Kriege zu beenden, selbst wenn dort unsere Wertvorstellungen nicht geteilt werden. Wir müssen erklären, dass Außenpolitik gerade mit jenen Staaten wichtig ist, deren Verhalten von Teilen unserer Bevölkerung zu Recht als schwierig empfunden wird. Die Debatte um Flüchtlinge und Migration zeigt, dass wir nicht entweder Flüchtlingspolitik oder Außenpolitik machen können, sondern alles zusammenspielt, wie zurzeit mit der Türkei. Natürlich wollen wir eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Türkei zur Bewältigung der Flüchtlingsströme, und gleichzeitig müssen wir das kritische Gespräch über das dortige Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, den Umgang mit Medien und die Kurdenpolitik führen.


Ihnen scheint Außenpolitik Spaß zu machen. Was fasziniert Sie daran?


Außenpolitik ist zu einer Riesenverantwortung geworden in einer Welt, die aus den Fugen gerät. Spaß im engeren Sinne an dieser pausenlosen Arbeit an Krisen und Konflikten vermittelt sich im Augenblick eher seltener. Aber im Laufe der vielen Jahre entdecke ich mehr und mehr, dass sich - trotz scheinbarem Chaos und gelegentlichen Rückschlägen - eben doch etwas bewegen lässt. Freude und Leidenschaft sind eher noch gewachsen, weil neben der Erfahrung eben auch ein internationales Netzwerk von Personen entsteht, mit denen man Jahr und Tag zusammenarbeitet. Das verschafft mir heute wesentlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten als noch in meiner ersten Amtsperiode. Mein Grundsatz ist und bleibt: Man muss bescheiden sein hinsichtlich kurzfristig erreichbarer Erfolge. Wichtig bleibt die Erkenntnis, dass man die Welt so nehmen muss wie sie ist, sie aber vor allem nicht so lassen darf.


Wenn Sie in einer ausweglos erscheinenden Konfliktsituation vermitteln - oder wenn Ihre Art dazu führt, dass ein eher steifer Gesprächspartner sich auf einmal öffnet, sagt sich Frank-Walter Steinmeier dann, ja, da bewegt sich was?


Ja, das gibt es. Zur Erfahrung gehört die Einsicht, dass man keine Angst haben darf vor dem Scheitern. Dafür sind die Iran-Verhandlungen ein gutes Beispiel. Wie oft war es fast vorbei, wie oft standen wir kurz vor einem neuen militärischen Konflikt, und doch haben wir die Kraft gefunden immer wieder neu anzusetzen. Ich denke, ich kann mich heute noch besser als in meiner ersten Amtsperiode in die Lage meines Gegenüber versetzen. Ich weiß, welchen Zwängen er ausgesetzt ist oder auch, dass etwa in Ostasien das in Europa als selbstverständlich empfundene offene Gespräch nicht einfach so funktioniert. Es gilt eben nicht nur das gesprochene Wort, man muss auch lernen, in Gesichtern zu lesen und Körpersprache zu interpretieren.


Sie wirken in der Öffentlichkeit meist freundlich, vor allem aber gelassen.


Aufgeregt sind ja schon alle anderen! (lacht)


Woher kommt diese Gelassenheit im Amt? Gehen Sie joggen, meditieren Sie, machen Sie Yoga?

 

Ohne starke Nerven und ein inneres Koordinatensystem, einen Kompass aus Werten und Zielen kann man diese Arbeit, die ja auch Rückschläge und Scheitern kennt, nicht über so viele Jahre machen. Sonst lässt man sich jeden Tag durch neue Entwicklungen so verunsichern, dass man den langfristigen Linien nicht folgen kann. Ansonsten - Yoga: nein, aber ein- bis zweimal die Woche gehe ich laufen. Und im Spätsommer geht's jedes Jahr in die Dolomiten, und ein paar Gipfel, auf denen ich noch nicht war, gibt's da auch noch!

Stiller Überflieger (Schwäbische, 24.2.2016)

Irgendwann gewöhnt sich jeder Politiker daran, dass die Leute hinter seinem Rücken reden. Über die letzte Ansprache, über die Ehefrau, über die Beziehungen zu den großen Parteichefs. Um gegen den Tratsch und manch andere Böswilligkeit zu bestehen, legen sich Politiker, vom Ortsbürgermeister bis zum Minister irgendwann eine Hülle zu, die sie schützt.


Bei Nils Schmid aber, dem SPD-Spitzenkandidaten in Baden-Württemberg, ist nicht erwiesen, dass er von dem Gerede überhaupt weiß. Dabei hat besonders seine Partei einen Hang, den Feind in den eigenen Reihen zu suchen, anstatt beim Gegner. Dieses Verhalten aus Zeiten des Klassenkampfes und der Verfolgung unter den Nationalsozialisten führt bei der SPD manchmal dazu, dass die Genossen vor lauter Misstrauen gar nicht merken, was für einen klugen Kopf sie da haben.
Nils Schmid ist kein Volkstribun. Ob beim Politischen Aschermittwoch oder auch bei der Ravensburger Runde mit den vier Spitzenkandidaten von SPD, Grünen, CDU und FDP, immer muss er um die Zuhörer kämpfen, ganz so, als gehe ihm die natürliche Autorität ab. Er ist keiner, dem die Frauen und die jugendlichen Wahlhelfer nahe sein wollen, wenn er nach einer Rede von der Bühne steigt. Schmid hält Distanz, zu den Menschen, zu seiner Partei, vielleicht auch ein bisschen zum Land.


Dissertation mit summa cum laude


Er wirkt wie ein Überflieger, ohne dabei ein Streber zu sein, den man gerne hänselt. Seine Dissertation bei einem Professor, der CDU-Mitglied ist, legte er mit summa cum laude hin. Verheiratet mit einer klugen Ehefrau mit türkischen Wurzeln, ist er einer, dem alles zu gelingen scheint. Eigentlich landet so jemand heutzutage nicht mehr in der Politik, sondern bei einer großen Beratungsfirma oder als Universitätsprofessor.


Dort müsste er auch nicht das Gerede der Genossen ertragen. Dass er zu wenig mit seinen Leuten rede, dass es ihm an Charisma fehle, all das sagen die Leute um ihn herum. Typisch für die SPD, wie die Genossen beim Aschermittwoch in Ludwigsburg den Außenminister Frank-Walter Steinmeier für dessen Rede feierten, die mindestens so kluge Ansprache von Nils Schmid aber nur mit höflichem Applaus bedachten.


Der Sohn eines Zollbeamten und einer Pädagogikprofessorin ist dieser Partei in den Schoss gefallen. Er ist mit seinen 42 Jahren ein junger stellvertretender Ministerpräsident. Aber so ganz über den Weg trauen ihm die Genossen bis heute nicht. Vielleicht ist der Mann, der noch deutlich jünger wirkt als 42, zu gescheit?


Als Schmid im vergangenen Spätsommer eine 60-köpfige Wirtschaftsdelegation nach Iran anführte, waren viele der mitreisenden Mittelständler aus Sigmaringen oder Friedrichshafen begeistert. Wie er die Interessen der Wirtschaft, den Wunsch nach Investitionssicherheit gegenüber den Mullahs verband mit dem Hinweis, dass dieses Land ein Willkürstaat sei, machte Eindruck. Manche der eher konservativen Mittelständler bedauerten gar hinter vorgehaltener Hand, dass er in der SPD sei und nicht in jener Partei, die sie sonst immer wählen.


Schmid ist Selbstkontrolle pur. Er trinkt am liebsten Mineralwasser und scheint eine Askese zu leben, die in einer Partei, in der es gerne auch mal hemdsärmelig und nikotinhaltig zugeht, Seltenheitswert hat. Nur manchmal bricht der Junge hervor, der Schmid auch zu sein scheint: In der iranischen Stadt Isfahan, bei der Besichtigung eines Palastes aus der Zeit, als dort die Seidenstraße entlang führte, sieht Schmid eine iranische Schulklasse, die ihn neugierig mustert. Er springt auf die Jugendlichen zu und ruft "Hello, I am Nils". Die Kinder machen Selfies mit dem Mann, der offenbar der wichtigste in der Besuchergruppe ist. Die mitreisende Ministerialbürokratie schaut angenehm verwundert dem Ministeriumschef zu.


Mit leiser Stimme


Beim Empfang für iranische Geschäftspartner und Politiker in der weitläufigen Residenz des deutschen Botschafters in Teheran hielt Schmid eine Rede, die niemand verstand. Es windete stark auf der Terrasse, und Schmid sprach so leise, dass die Mehrheit der Zuhörer die Hand hinter die Ohren halten musste, um zu erahnen, was der Finanz- und Wirtschaftsminister da sprach. Dabei hat er an diesem Abend in Teheran Dinge gesagt, die ungewöhnlich sind für einen Wirtschaftsminister: Dass wir nur ein Moment in der Geschichte seien, und uns alle doch bitte nicht so wichtig nehmen mögen, auch wenn man meine, dieser Moment in der Geschichte zwischen Iran und dem Westen sei einmalig. Das sollten alle gehört haben, Iraner wie Deutsche. Haben sie aber nicht.


Manch einer in der SPD macht Schmid für die schlechten Wahlprognosen verantwortlich. Dabei haben die Genossen erfolgreich in Stuttgart regiert, müssen jetzt aber fürchten, dass die rechtspopulistische AfD noch besser abschneidet als ihre Partei mit der über 100-jährigen Tradition. "Auf die SPD kommt es an", wird im Landtagswahlkampf geworben. Das gilt immer weniger, denn so wie der Liberalismus in Europa in eine Krise geraten ist, ergeht es jetzt der Sozialdemokratie. Die Schuldigen haben die Genossen bereits ausgemacht: Gabriel heißt der eine, Schmid der andere.
Den Regierungschef Winfried Kretschmann treibt Schmid immer mal wieder in die Verzweiflung. Weil er nicht so kommuniziert, wie man es sollte. Weil er öffentlich Ankündigungen macht, von denen seine Regierungspartner vorab nicht informiert sind. Ob diese Unberechenbarkeit Taktik ist, wissen nicht einmal seine engsten Berater immer. Sie entsteht jedenfalls kaum aus Überheblichkeit. Wenn er etwa auf der Dienstreise nach Teheran alleine vorne in der Business Class sitzt, während der Rest der Delegation sich in die Holzklasse klemmt, wirkt er fast schüchtern. Am Flughafen in der iranischen Hauptstadt reiht er sich brav wie alle Normalsterblichen in die Schlange ein, um seinen Pass abstempeln zu lassen. Schmid strahlt manchmal eine Demut aus, die es in der Politik nicht so häufig gibt.


Das Problem ist nur: Mit solchen Eigenschaften punktet man nicht beim Wähler. Nils Schmid hat schon auf die Bedeutung der Türkei hingewiesen, als auch in der Bundes-SPD manch ein Genosse fand, die Türken könne man links liegen lassen. Aber genauso wenig wie mit dem Wissen um die globalen Zusammenhänge kann man sich zu Hause damit profilieren, dass man eine Nullverschuldung zustande gebracht hat.


Die Wirkung von Körpersprache


Seit einiger Zeit wirkt Schmid etwas lockerer als früher. Manche führen das auf den Einfluss seines Sprechers Bastian Fleig zurück, der Politologe ist und um Körpersprache und die eigene Wirkung weiß. Wer, wenn nicht der Hobby-Rapper Fleig wird Schmid gesagt haben, dass eine Körperdrehung bei einer Rede, das Anheben der Stimme, legitime Mittel der Selbstdarstellung sind? Wahrscheinlich hat ihm Fleig auch Sätze geschrieben, wie den, dass die CDU rückwärtsgewandt sei und deren Spitzenkandidat Guido Wolf den rechten Rand der Gesellschaft als Wolfserwartungsland betrachte. Das mögen die Leute, das schätzen die Wähler.


"Also", sagt ein SPD-Mann in Ludwigsburg nach der Rede von Nils Schmid zum Aschermittwoch, er wisse nicht, wie er das sagen solle, der sei schon okay, "der Nils", auch wenn er in den Medien nicht so präsent sei, sei er doch nicht so ein "Hoppla, jetzt-komm-ich-Typ". Schmid passt nicht ins Muster, er krakeelt nicht wie sein Fraktionsvorsitzender im Landtag, der kaum ein Hehl daraus macht, dass er am liebsten mit Guido Wolf koalieren würde. Schmid ist aber auch nicht vor Angestrengtem gefeit, wenn er in der Wahlkampfbroschüre berichtet, dass er seine freie Zeit gerne mit seiner Frau in der Wilhelma verbringe.


Mit Nils Schmid kann man nicht zechen. Er ist keine Stimmungskanone. Mit Schmid kann man über persische Literatur reden, über Budgets, über Hermes-Bürgschaften und über deutsch-jüdische Aussöhnung. Für den Wahlkampf sind das aber sperrige Themen.

Wenn die Ministerin spricht (Schwäbische, 23.7.2015)

Wer Ursula von der Leyen verstehen will, muss ihr zuhören. In ihrer Sprache, in den Betonungen offenbart sich der Unterschied zu der Frau, die sie beerben will und zu dem Mann, der ihr dabei im Wege steht: Angela Merkel und Thomas de Maizière. Die Bundeskanzlerin und der frühere Verteidigungsminister können gelassen mal schweigen, während Ursula von der Leyen beim Reden schon über den nächsten Satz nachzudenken scheint.

 

Viele Adjektive

 

Die promovierte Medizinerin steht, obwohl bereits 56 Jahre alt und Mutter von sieben Kindern, unter Strom. Sie erklärt praktisch alles, über das sie spricht, zur bedeutungsvollen Angelegenheit. Ob sie nun - wie vergangenen Monat in Berlin geschehen - das Büfett beim Parlamentarischen Abend des Reservistenverbandes lobt oder ob sie an der Münchner Sicherheitskonferenz im vergangenen Februar ihr neues Konzept einer Führung aus der Mitte erläutert, es ist "ausgezeichnet", "anerkannt" und "besonders".

 

Ursula von der Leyen verringert durch die Verwendung vieler Adjektive die Bedeutung des Gesagten. So wird aus der Beschreibung von Terrorismus eine "unerträgliche Barbarei". Ganz so, als ob es auch eine erträgliche Form der Barbarei gibt.

 

Sie lobt die Fürsorge, mit der sich Reservisten der Bundeswehr jener afghanischen Ortskräfte annehmen, die aus Sicherheitsgründen nach dem Abzug der deutschen Soldaten ebenfalls nach Deutschland gezogen sind. Diese afghanischen Übersetzer - "Sprachmittler" genannt im Bundeswehrsprech - sind jung und ambitioniert. Sie stehen auf einer Bühne im Garten der baden-württembergischen Landesvertretung, einer hält eine gute Rede, der Aalener CDU-Abgeordnete und Chef des Reservistenverbandes, Roderich Kiesewetter, moderiert, die Verteidigungsministerin verteilt Bahngutscheine an die Afghanen, damit diese Deutschland besser kennenlernen könnten.

 

Von der Leyen sagt dann: "Danke, danke, danke für das Engagement." Es wirkt, als wolle sie wettmachen, dass das Wort "Danke" im Militärischen nicht eben häufig vorkommt.

 

Im Garten der baden-württembergischen Landesvertretung fragt ein gesprächiger Oberst am Biertisch: "War das nun alles", als von der Leyen fertig ist. Gerade hat sie den "besonderen Stoff, aus dem Kameradschaft und Bundeswehr gestrickt sind" gelobt. Dann zitiert die Ministerin noch einen Satz, den sie bei einem ihrer Kurzbesuche in Westafrika mitbekommen haben muss. Es gebe da dieses "wunderschöne afrikanische Sprichwort", wonach mit dem Tod eines alten Menschen auch immer eine ganze Bibliothek verschwinde.

 

Ursula von der Leyen ist, wie eine Journalistin der "NZZ" anmerkte, eine "Art von Anti-Merkel". Das was viele an der Bundeskanzlerin so sympathisch finden, die beredte Unaufgeregtheit, verkehrt sich bei von der Leyen ins Gegenteil. Glitzernde Wortkaskaden verbergen ihre Ambitioniertheit, den verletzenden Ehrgeiz, vielleicht auch ihre Einsamkeit. Denn Ursula von der Leyen hat in ihrer Partei nur wenige Freunde.

 

Versuchte Demütigung

 

"Ich traue ihr jedwede Boshaftigkeit zu, um de Maizière zu schaden", sagt ein nicht ganz unwichtiger CDU-Mann in Berlin. Nach innen mag sie ihre Versuche, de Maizière zu demütigen, als weibliche Emanzipation in der Männerdomäne Politik verkaufen. Unter dem Strich bleibt aber doch wenig mehr als der Eindruck des kalten Kalküls, wenn eine Ministerin beim Streit um das G36 erklärt, da habe es wohl ein Durcheinander in dem Büro gegeben, dem sie jetzt vorstehe. Soll heißen: Der Vorgänger hat ein Durcheinander produziert.

 

Wie sich ihr Duktus seit 2013, dem Beginn ihrer Zeit als Verteidigungsministerin, verändert hat: In München sprach sie zum Jahresanfang vom "Daisch", dem arabischen Wort für die Terrororganisation Islamischer Staat. Die Zuhörer horchten auf, und so wie sie es auf Arabisch aussprach, schien da jemand zu sprechen, der sich mit der Materie beschäftigt hatte. Aber neben Sachverstand kann es auch mangelnde Abgrenzung suggerieren. Die Ministerin spricht jetzt wieder vom Islamischen Staat.

 

Ursula von der Leyen ist zierlich. Sie macht das immer mal wett, indem sie vortritt und die Mikrofone am Rednerpult zu sich hindreht. Mit viel Aufwand geschieht das, beidhändig justiert sie während der Rede immer wieder nach. Ganz so, als wolle sie zeigen, dass hier jemand steht, dem man besser zuhören möge.

 

Vor knapp zwei Jahren hat sie sich bei der Kanzlerin durchgesetzt: Die hat ihrem treuen Diener de Maizière sein Ministerium weggenommen. Bei dem Hugenotten und Synodalen der EKD konnte man nicht immer sicher sein, ob er hart genug war und das riesige Verteidigungsministerium im Griff hatte. Heute scheint es, dass von der Leyen realisiert, dass ein solches Ministerium mit seinen Empfindlichkeiten, den unterschiedlichen Waffengattungen, den Verknüpfungen zur Rüstungsindustrie schwer zu steuern ist. Wenn man sich dabei von der Betriebsberatung KPMG helfen lässt, die Strukturen im Hause durchleuchten lässt, macht das nach außen Eindruck.

 

Umsetzen muss man es nach innen. Und damit hat von der Leyen so zu tun, wie ihr Vorgänger.
Ist sie Kanzlerinnennachfolgerin? Am Ende wird es eines fernen Tages vielleicht jemand werden, mit dem heute niemand rechnet. Am wenigsten Ursula von der Leyen.

Wenn der Erlkönig kommt (Schwäbische, 5.7.2014)

Wenn Markus Hugger gefragt wird, welche Parteien denn in seinem Gemeinderat am stärksten vertreten seien, dann muss er einen Moment grübeln. Der Blick des gewieften 43-jährigen Bürgermeisters in seinem Büro im alten Schloss geht zur Yuccapalme, dann zählt er mit den Fingern ab: zwölf sind in der CDU, sechs in der SPD. Was anderes gibt es nicht in dem 6000-Einwohner-Ort Immendingen (Kreis Tuttlingen). Hier arbeitet man, wie oft in der Kommunalpolitik, an Themen, nicht an Weltanschauungen.

 

Drei Jahre ist es her, da bekam Bürgermeister Hugger einen Anruf. Das Gespräch mit einem Herrn Ulsamer veränderte den Verwaltungs-chef. Und heute verändert es Immendingen, es wandelt "total unser Image", sagt Hugger. Immendingen ist nicht mehr das einkommensschwache Örtchen der Verlierer. Es ist auf der Siegerstraße.

 

Danach sah es 2011 zunächst nicht aus: Die französischen Soldaten, so viel war damals klar, würden abziehen. Viele Handwerker und Pendler, die im nahen Tuttlingen ihr Auskommen fanden, waren verunsichert. Sie ahnten, dass es mit dem Abzug der Franzosen nicht getan sein würde, sondern auch die verbleibenden deutschen Soldaten irgendwann die Koffer packen würden.

 

Der Mann, der damals den Bürgermeister anrief, ist ein schwäbischer Soziologe. Lothar Ulsamer wollte sich eigentlich mit 60 Jahren zur Ruhe setzen und die Arbeit in der Strategieabteilung beim Daimler in Stuttgart an einen Jüngeren übergeben. Aber dann gab es da diese Idee, die ihn so faszinierte, dass er blieb: ein Technologie- und Testzentrum sollte in Baden-Württemberg gebaut werden, höchstens eine Stunde von den Mercedes-Werken in Sindelfingen und Stuttgart entfernt. Man wollte also in jenem Bundesland bauen, in dem noch zahlreiche Großprojekte von Bürgerinitiativen, Mulchrettern, Bahnhofsgegnern und Grundsatz-Dogmatikern verhindert worden waren.

 

Was den alerten fünffachen Großvater Ulsamer zum Weiterschaffen beim Daimler trieb, war auch das schlechte Image der Automobilindustrie. Zwar fahren wir alle Autos. Aber dass die Dreck machen und getestet werden müssen, wollen wir nicht wissen. Wenn dann solche Tests auf öffentlichen Straßen stattfinden, wenn Testfahrer tödliche Unfälle verursachen, ist das Image der Autobauer vollends ramponiert.

 

Und irgendwie wollte der hochaufgeschossene Schwabe mit den exotisch gemusterten Krawatten das ändern. Jetzt steht er auf dem Plateau über Immendingen in einer blühenden Magerwiese. "Ich bin nicht beim Daimler von Hongkong bis sonstwo gewesen, aber ich schaffe hier etwas", sagt er. Rotklee, wilde Möhre und kräftig weiße Margeriten wogen im Wind, eine Feldlerche jubiliert in den blauen Himmel hinein, dass es eine Wonne ist. Wenn es nach dem Willen des Daimler-Vorstands geht, nach dem Wunsch der meisten Immendinger und sogar dem des grünen Ministerpräsidenten, dann werden hier oben in drei Jahren Autos getestet. Es wird anders sein als jetzt. Lauter. Aber nicht nur das.

 

Von dreizehigen Urpferden

 

Die Oberfeldwebel-Schreiber-Kaserne mit ihrem großen Gelände für Panzerfahrten, die Magerwiesen und der Fichtenwald drum herum sollen alle Teil des Daimler-Testzentrums werden. Hier werden neue Autos fahren, die noch nicht präsentierten Erlkönige, die getarnten Neuschöpfungen, auf welche die Automobiljournalisten warten wie Paparazzi auf Angelina Jolie. Die Erlkönige werden dann auf der Nasshandlingstrecke, der Vorbeifahrmessstrecke, dem Ovalrundkurs, dem Stadtdauerlauf, dem Albdauerlauf, der Beleuchtungsstrecke oder der Teststrecke für autonomes Fahren geprüft.

 

Ulsamer kannte Immendingen von Wanderungen vor 30 Jahren. Er hatte die Geschichten von den versteinerten Tieren gehört, die am Rande eines erloschenen Vulkankegels zu finden waren: zehn Millionen Jahre alte hornlose Nashörner, Antilopen und dreizehige Urpferde.

 

Stuttgart 21 ist nicht überall

 

Von Immendingen als möglichem Bauplatz erzählte ihm vor drei Jahren ein Naturschützer, einer vom BUND. Er habe nach einem möglichen Testgelände Ausschau gehalten. Ob der Tipp der Naturschützer nun eine sorgsam von Daimler und Ulsamer gepflegte Legende ist oder nicht, lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Aber die Anekdote zeigt, dass man sich offenbar heute über ideologische Gräben hinweg bei Großprojekten verständigen kann. Nicht überall im Land scheint Stuttgart 21 zu sein. Ulsamer sagt: "Wir haben erst über die Sinnhaftigkeit gesprochen und dann über einen Bauplan."

 

Nachdem er 2011 den Immendinger Bürgermeister angerufen hatte, ging alles ziemlich schnell: Das Gelände wurde begutachtet, kartiert, ein Informationszentrum aufgebaut. Aus der großen Verunsicherung der Immendinger, was denn nun werden solle nach dem Abzug der Soldaten, machte Markus Hugger eine Chance: Er bat das Verteidigungsministerium, die verbleibenden Soldaten schneller als geplant abzuziehen. Dann könne man seine eigene, vorgezogene Konversion, also die Umwandlung eines Militärgeländes, vollziehen und Perspektiven schaffen. Daimler verpflichtete sich, nur noch auf Immendingen zu schauen. Bei der ersten Bürgerversammlung sah Ulsamer ein Transparent: "Willkommen in Immendingen". Eine solche Begrüßung sei er aus anderen Orten nicht gewohnt.

 

Oben, auf dem Plateau mit den Magerwiesen, gibt es wenige "Viecher", wie Ulsamer sie ein wenig spöttisch nennt. "Wenn es an einem möglichen Standort den Ziegenmelker oder die Gelbbauchunke gibt, rate ich, die Finger davon zu lassen." In der Tat wirken manche Gesetze bei derartigen Großprojekten wie eine Reaktion auf die Willkür, mit der noch vor 40 Jahren in Deutschland Natur für Wachstum zerstört wurde.

 

Weil es auf dem Plateau Haselmäuse geben könnte, muss dem Nager die Chance zur Umsiedlung eingeräumt werden. Also werden Fallen aufgestellt, auch wenn sich bisher noch keine Haselmaus darin verirrt hat. Mit Fotofallen wurde ein Jahr lang geprüft, ob es Wildkatzen geben könnte. Es gab keine.

 

Die Immobilienpreise steigen

 

"Lieber Gott, schütze uns vor drei Dingen", hieß es früher bei den Soldaten, "Hunger, Durst und Immendingen." Das ist heute anders: Die Tuttlinger, die den armen einkommensschwachen Nachbarn lange gerne mitleidig und von oben herab behandelten, sprechen jetzt mit Respekt vom Wagemut der Immendinger. Die Immobilienpreise steigen, alle 300 leeren Wohnungen der Franzosen sind bezogen, manche Bürger kauften gleich drei auf einmal. Und Bürgermeister Hugger berichtet sichtlich gerührt vom dramatischen Imagewandel seines Ortes, um dann sogleich selbstbewusst hinzuzufügen, dass die Chance bei diesem Projekt doch beidseitig sei: So wie Immendingen sein Image gewandelt habe, so habe der Daimler die Möglichkeit, seine Reputation bei Großprojekten nachhaltig zu verbessern. Dass es gut läuft, hat sicher damit zu tun, dass hier auch einer ist, der die Leute anhört und der sich Gedanken macht, wie man sie mitnimmt.

 

Die Naturschutzverbände können mitreden und mitgestalten, anstatt nur dagegen zu sein. Noch ist kein Auto gefahren auf dem Testgelände. Noch rollen nicht Hunderte Lastwagen täglich durch den Ort, um Baumaterial für die Teststrecke zu bringen, oder um gefällte Fichten ins Sägewerk zu fahren. 300 Stellen sollen vom Daimler geschaffen werden, später einmal bis zu 1500.

 

Was die 500 Hektar Land kosten, die vom Bund und einigen Privaten gekauft werden, wird beharrlich verschwiegen. 150 Hektar Wald werden gefällt, 90 Hektar Grund durch die Daimler-Bauten versiegelt. Wenn das Gelände allein dem Daimler gehört, wenn dann noch die wichtigste Station im Behördenmarathon, die Erlaubnis nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz, erfolgt ist, sollen noch einmal 200 Millionen Euro in Bauten, Straßen und Testanlagen investiert werden.

 

Jahre des Umbruchs stehen bevor

 

Es scheint, als zögen bessere Zeiten für die Gemeinde auf. Und es läuft so gut, dass manchen Außenstehenden die Frage umtreibt, ob man etwas übersehen hat. Ob es da noch einen Haken gebe, den Daimler vielleicht verschweige.

 

Clemens Knoblauch, der lokale Mercedes-Händler, weiß, dass ihm mit dem Abzug der Bundeswehr attraktive Wartungsaufträge wegbrechen. Die hofft er durch den Zuzug von Daimler-Leuten zu ersetzen. "Aber diese Umbruchphase wird Jahre dauern", ahnt er.

 

Eines, da ist Knoblauch sicher, sollten die Immendinger auf keinen Fall machen: sich allein auf den Daimler verlassen. So wie die Eltern und Großeltern damals auf die Bundeswehr vertrauten und nicht daran dachten, dass es einmal anders kommen könnte.

Eine Geschichte des schlechten Gewissens (Schwäbische, 29.3.2014)

In der Ziegelsteinkirche von Kiziguro hing ein Schrei. Er betäubte die Sinne, dröhnte in den Ohren. Der Geruch von Blut, Schweiß und Fäkalien raubte uns den Atem.

Der Geruch gehetzter, ermordeter Menschen ist anders als der von Toten im Altenheim. Er bleibt hängen. Zunächst in der Kleidung. Und später dann in der Erinnerung.

 

Wir wussten damals, Anfang April 1994, sehr bald, was in der Kirche von Kiziguro Stunden zuvor geschehen war: Milizionäre der Todesschwadrone hatten die schwere Holztür aufgestemmt, die Frauen, Kinder und Alten, die sich dort versteckt hatten, massakriert. Die bis zu 2000 Gemeuchelten waren die Nachbarn und Schulfreunde ihrer Mörder. Die Menschen, die in ihrer Verzweiflung nach offenen Fenstern gesucht, deren Fingerspitzen sich in Mauerfugen gekrallt hatten, als könnten sie so den Mördern entkommen, gehörten zur Volksgruppe der Tutsi. Die Täter mit den Macheten waren vom Volk der Hutu.

 

Ein Land im Blutrausch

 

Kiziguro, der Ort mit dem schönen Namen, wurde zum Synonym für einen der größten Völkermorde der Neuzeit. Ähnlich wie die Stadt Gitarama, in der Blutorgien stattfanden, oder das Hotel Milles Collines in der Hauptstadt Kigali, in dem Hunderte über Wochen von den Milizen mit dem Tod bedroht wurden.

 

Von April bis Juni 1994 starben fast eine Million Menschen. Nie zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren auf so kleinem Raum in so kurzer Zeit von etwa 100 Tagen derart viele Menschen getötet worden. Nie zuvor hatte die Internationale Gemeinschaft, allen voran der damalige UN-Chef für Blauhelmmissionen, Kofi Annan, und US-Präsident Bill Clinton, derart drastisch jedwedes Eingreifen verweigert. Clinton war der Meinung, dass der Welt nach der missglückten Befriedung Somalias nicht noch ein Einsatz in einem fernen und nicht so wichtigen Land zuzumuten sei.

 

Ruanda und der Genozid vor 20 Jahren sind auch eine Geschichte des Wegschauens und des schlechten Gewissens. Die Politik, viele Hilfsorganisationen und auch viele Medien haben sich schuldig gemacht. Indem sie damals, vor 20 Jahren, dem Genozid fernblieben und später die Vergeltungsakte des neuen Regimes in Kigali nicht verurteilten.

 

Mich hat Ruanda gelehrt, dass wirklich unschuldig nur die kleinen Kinder sind. Die völlige Hilflosigkeit von Kindern in einem solchen Ereignis ist betäubend wie der Schrei in der roten Backsteinkirche.

 

Einmal standen wir auf einer Brücke und sahen im Morgengrauen dunkle Flecken auf dem Wasser treiben. Als sie näherkamen, entdeckten wir die Toten. Es waren Menschen, die flussaufwärts den Milizen in die Hände gefallen waren. Eine Frau trieb auf dem Rücken, neben ihrem Körper ragten zwei kleine schwarze Kinderschuhe aus dem Wasser. Die Mutter hatte ihr Kind, wie es in Afrika üblich ist, mit einem Wickeltuch auf den Rücken gebunden.

 

Ein anderes Mal, der Genozid war eigentlich vorüber, kam ich an ein Flüchtlingslager im Südwesten. Die Rebellen töteten Menschen, die verdächtigt wurden, am Genozid teilgenommen zu haben. Im Gefechtslärm hielt ein verzweifelter Mann weinend einen Säugling durch das Wagenfenster und flehte: Nimm ihn mit, bitte bring das Kind weg von hier.

 

Verzweifelter UN-General

 

Oder ich denke an das namenlose Mädchen in Kigali, in jenem Haus in der Nähe des Amohoro-Stadions. Ich entdeckte es, als wir eine Leiche in einer Hofeinfahrt sahen, dann weitergingen in das Haus, durch dessen zerbrochene Fenster die Vorhänge wehten. In einem Hinterzimmer saß es, vielleicht zehn Jahre alt, auf dem Tisch lagen Schulhefte, sie hatte bunte Turnschuhe an. Ich wollte sie ansprechen in dem halbdunklen Raum, und merkte erst dann, dass das Mädchen tot war. Die Mörder hatten ihr den Schädel gespalten.

 

Unten im Tal wurde noch gekämpft, der verzweifelte UN-General Romeo Dallaire stand vor dem Hotel Amohoro und erklärte, wie er Flüchtlinge aus dem Hotel Milles Collines herausbekommen wollte, die von den Milizen mit dem Tod bedroht wurden. Stunden zuvor hatten junge Männer mit blutunterlaufenen Augen uns, zwei deutsche Afrika-Korrespondenten und ein Team der BBC, an einer Straßensperre angehalten. Es herrschte Endzeitstimmung, bald würde das Töten ein Ende haben.

 

Die Milizionäre wollten trotzdem weitermachen, sie versuchten, den kenianischen Kameramann des BBC-Teams aus unserem Wagen zu zerren. Der Mann sah ähnlich aus wie ein Tutsi. Wir hielten ihn an seiner Kleidung fest, seinen Armen, sodass die Mörder ihn nicht aus dem Wagen bekamen und schließlich aufgaben.

 

Dann flüchteten wir ins Hotel Umambano. Die Rebellen hoben Schützengräben auf dem Parkplatz aus, die Front verlief auf der anderen Straßenseite. Wir stellten Sofas als Kugelfang vor die Hotelfenster und schliefen auf dem Boden.

 

Dann begann die große Flucht: Die Mörder und ihre Familien flohen nach Westen, in das Land, das damals Zaire und heute Kongo heißt. Mit ihnen marschierten viele Unschuldige, die Angst vor den neuen Herren in Kigali hatten.

 

Die Toten der anderen Seite

 

Verdient ein im Genozid mit der Machete erschlagenes Opfer mehr Mitgefühl als der Mörder, der auf der Flucht von der Cholera heimgesucht wird und elendig am Straßenrand krepiert? Was ist mit seinen Kindern, die bei ihm sind, und die wenig später, eingerollt in eine Bastmatte in Stapeln von Toten, auf dem Weg zum Flughafen der Stadt Goma am Kivu-See liegen?

 

Es bekamen die Täter des Genozids mehr Aufmerksamkeit als die Opfer. Das war eine Folge des schlechten Gewissens. Die Journalisten und humanitären Helfer, die im Juli 1994 nach Zaire eilten, um den geflohenen Mördern und den Mitläufern zu helfen, waren, bis auf ganz wenige Ausnahmen, während des Genozids nicht in Ruanda gewesen.

 

Dabei hätten ihre Berichte und Hilfslieferungen die Not lindern können. Gleiches gilt für die Politik und die Diplomatie. In den 20 Jahren seit dem Genozid hat das neue Regime in Kigali zwei verheerende Kriege im Kongo geführt. Viele Mitstreiter des ehemaligen Rebellenchefs und heutigen Präsidenten Kagame sind ermordet worden, nachdem sie den Staatschef kritisiert hatten. Die westliche Politik und die Diplomatie trauen sich nicht, ihn zu kritisieren, aus Angst vor der Frage, was sie denn vor 20 Jahren gegen den Völkermord unternommen haben.

 

Als wir Kigali verließen, nahmen wir Angelique und ihre Freundin mit. Sie hatten zwei Monate im Hotel Milles Collines ausgeharrt, beschützt vom Roten Kreuz und einigen aufrechten Hotelmitarbeitern, während draußen ein blutrünstiger Mob den Tod der „Kakerlaken“ forderte, wie die Milizionäre alle Tutsi nannten. Angelique wurde unter Vermittlung der UN ausgetauscht, Angelique gegen einen gefangenen Mörder. Geblieben waren ihr eine kleine Reisetasche und eine Matratze. Wir nahmen die junge Frau mit in ihr Dorf, irgendwo südlich der Hauptstadt. Sie war schweigsam, sie hatte schon vor Wochen, als sie selbst nicht wusste, ob sie lebend aus dem Milles Collines kommen würde, gehört, dass ihre Eltern umgebracht worden waren. Sie fuhr zurück in eine Zukunft, die sie so nicht gewollt hatte.

 

Einiges ist seit dem großen Morden passiert: Ein Internationaler Strafgerichtshof urteilt heute über die Organisatoren des Genozids, die etwa von Kamerun und Kenia ausgeliefert wurden. Agathe Habyarimana, Witwe des früheren Staatspräsidenten und eine der Organisatorinnen des Völkermordes, lebt allerdings nach wie vor in Paris, geduldet von der französischen Regierung.
Auch die deutsche Justiz richtet über Verbrechen gegen die Menschlichkeit an weit entfernten Orten: Im Februar 2014 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt Onesphore R. zu 14 Jahren Haft wegen seiner Beteiligung am Völkermord.

 

Der Mann war im April 1994 Bürgermeister von Kiziguro, jenem Ort mit dem schönen Namen und der Kirche aus rotem Ziegelstein, in der in den Stunden nach dem Massaker noch der Schrei der Opfer hing.

 

Christoph Plate arbeitete von 1993 bis 2001 als Afrika-Korrespondent mit Sitz im kenianischen Nairobi für deutsche Medien.

Nichts wie weg: Weshalb Deutsche gehen (NZZ am Sonntag, 6. 10. 2013)

Viele Deutsche ziehen fort aus der Schweiz. Das liege an der geistigen Enge der Schweizer, die den Deutschen ständig zu verstehen gäben, dass sie nicht dazugehören, schreibt Christoph Plate.

 

Es liegt nicht an der Bratwurst. Zumindest nicht nur. Natürlich ist die in Deutschland billiger. Sie kostet 2 Euro 40, mit Bürli, das sind keine drei Franken. Irgendwie schmeckt die Wurst anders, wenn man weiss, dass für das Gegenstück am «Vorderen Sternen» in Zürich mehr als das Doppelte zu zahlen ist. Aber das ist nicht der Grund, warum immer mehr Deutsche - Ärzte, Journalisten, Universitätsdozenten, Banker – wieder zurück ziehen in das Land, aus dem sie kommen.

 

Sie gehen nicht wegen der günstigen Kinderbetreuung im Montessori-Kindergarten oder für die Krankenversicherung, die einen Bruchteil von dem kostet, was in der Schweiz zu berappen ist, inklusive der Zahnarztkosten. Auch das Wirtschaftswachstum in Deutschland macht eine Rückkehr leichter, aber viele Deutsche würden der Schweiz trotzdem nicht den Rücken kehren, wenn sie sich denn dort wohl fühlten.

 

Ich bin einer der Rückkehrer. Als ich um diesen Text gefragt wurde, zögerte ich. Denn ich habe in diesem Land viel gelernt, habe beruflichen Erfolg bei einem angesehenen Blatt gehabt, oft den Ausblick von der Alp Scheidegg genossen oder die Wanderungen im Sertigtal. Trotzdem war es richtig, zu gehen. Weg aus der Behaglichkeit, die schläfrig zu machen droht, weg von einer Kultur, zu der wir nie gehören werden, weil man uns nicht lässt. In Deutschland darf ich kritisieren und streiten, ohne deswegen als Störenfried zu gelten.

 

Es ziehen jene Deutschen zurück, die sich nach Jahren in der Schweiz nicht zu Hause fühlen, nicht aufgenommen, nicht akzeptiert. Jene Deutschen, die einen Schweizer Partner haben, bleiben meist – zähneknirschend. Aber die vielen, die gehen, beklagen Eigenschaften an den Schweizern, die man sonst eigentlich den Deutschen zuschreibt: die geistige Enge, die vielen Vorschriften, den latenten Antisemitismus, die Ausländerfeindlichkeit, die völlige Abwesenheit von Selbstironie.

 

Sie ärgern sich über die mangelnden Debatten im Land, über die nicht vorhandene Streitkultur. In der Schweiz wird weggeguckt und weggehört. Zivilcourage ist selten, wenn ein Brandstifter wie Christoph Blocher mal wieder gegen jene Menschen stachelt, ohne die in der Schweiz der Müll nicht weggefahren und die Patienten nicht operiert würden oder die Bilanzen nicht so gut aussähen. Wenn ich meine intellektuellen Freunde in der Schweiz fragte, warum denn kein Künstler, kein Denker, kein Politiker aufstehe gegen den gesellschaftlich anerkannten Zorn eines Blochers und seiner Mitstreiter, gegen deren Volksverhetzung, sagten Ernesto, Beat, Simone oder Charlotte: weil die kritischen Geister alle im Exil sind, meist in Berlin oder in Paris.

 

Der Moment, in dem ich wusste, dass es richtig war, die Schweiz verlassen zu haben, kam eines Morgens hinter Seebach. Ich war wieder mal zu Besuch in Zürich und geriet in eine Strassensperre. Der unwirsche Mann von der Kantonspolizei nahm die Wagenpapiere, den Führerausweis und die Identitätskarte, scannte sie und reichte sie mir, nachdem er noch hatte wissen wollen, was ich in der Schweiz zu tun hätte, mit den Worten zurück: «Scheint in Ordnung zu sein». Meine Unterlagen waren also nicht in Ordnung, sondern schienen es nur zu sein. Der Generalverdacht gegen den Dütschen blieb bestehen, er durfte weiterfahren, aber nicht ohne ihm noch einen mitzugeben. Das Grundmisstrauen ist immer da, im Tram, an der Kasse, im Sportverein. Es ist ja nicht so, dass die Schweiz ein Land ohne Geschichte wäre. Aber sie ist ein Land, das sich nicht als Teil Europas definiert. Die Juden, die ins Land gelassen wurden, als die Nazis sie jagten? Das waren Ausländer. Der Fall der Berliner Mauer, ein Ereignis, das Europa grundlegend verändert hat? Das war die Geschichte der Deutschen. Die Schweiz hat den Rütlischwur und die Konkordanz.

 

Wir haben die Schweizer Neutralität immer mit Liberalität verwechselt. Einmal im Land, merkten wir, dass der Bünzli regiert. Dieses Land ist voller Beamter, die gar keine Beamten sind. Unordnung oder Kindergejauchze im Tram stellen die herrschende Ordnung eher in Frage als die Hetzkampagnen der SVP.

 

Ich habe über Jahre einmal in der Woche am Zürichsee einem Juden, der über 90 Jahre alt war und schwache Augen hatte, aus Büchern vorgelesen, die wir vorher zusammen ausgesucht hatten. Er war kein Flüchtling, sondern der Zufall hatte es gewollt, dass sein Grossvater, ein Triester Kaffeehändler, vor langer Zeit das Angebot angenommen und Schweizer Pässe für die Familie gekauft hatte. Der Pass rettete dem jungen slowenischen Juden das Leben, als die Nazis und die Wehrmacht in seiner Heimat einmarschierten. Mit ihm, dem Schweizer ohne Schweizerdeutsch, habe ich stundenlang im Nebel seiner Gauloise-Zigaretten darüber gesprochen, was Heimat sei. Nach mehr als 60 Jahren in der Schweiz sagte er: Heimat ist sie nie geworden.

 

Die Schweiz hat in ihrer jüngeren Geschichte keine Erfahrungen mit Krieg oder Zerstörung gemacht. Das ist ein wundervolles Privileg, wenn es keine Geschichten vom gefallenen Grossvater oder vom enteigneten Landgut gibt. Die Kehrseite dieses Privilegs ist die übergrosse Bereitschaft wegzuschauen, Hetzer und Rattenfänger zu dulden und, wenn einer mit dem Feuer spielt, mit den Schultern zu zucken. Selbstreflexion als Nation findet, wenn überhaupt, im Privaten statt. Und niemand erhebt in der Schweiz die Stimme, wenn in den deutschen Talkshows ein giftiger Hahn wie der «Weltwoche»-Chef Roger Köppel das Bild von der Schweiz bestimmen darf. Niemand ruft öffentlich aus: Wir sind doch nicht nur Köppel und Blocher!

 

Die Schweiz brennt sich nicht ein, sie macht sich nicht begehrenswert, ihr geht das Liebenswerte ab, das ausländische Touristen in diesem Land zu finden meinen. Es fällt schwer, das Land zu lieben, weil seine Bewohner es selbst nicht lieben. Wenn keine Deutschen oder andere Ausländer da sind, gegen die man sticheln kann, geht es gegen den Kanton nebenan, gegen das Tal auf der anderen Seite des Berges, gegen den Nachbarn. Kein Wunder, dass es Jahre dauert, bis der Schweizer den Deutschen in sein Wohnzimmer lässt.

 

Andere haben über das diffizile Verhältnis zwischen Kuhschweizern und Sauschwaben geschrieben. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagte einmal in einem Interview mit einer Schweizer Zeitung, er fühle sich dem Aargauer näher als dem Niedersachsen. Kretschmann ist zwar ein guter Ministerpräsident, aber er hat nie in der Schweiz gelebt.

 

Schon bevor wir im Herbst 2001 kamen, bevor viele Deutsche einander in Ausländerämtern und bei Begrüssungs-Apéros auf die Füsse traten, hatten wir Schweizer Freunde. Aber eben solche, die aus der Schweiz geflohen waren, weil es ihnen selber zu eng war. Das waren Korrespondenten, Diplomaten, Aussteiger in Asien oder in Afrika.

 

Wir haben erst später verstanden, dass die Weltoffenheit der Schweiz ein Werbegag von Schweiz Tourismus und Swatch war. Denn die Internationalität, das Kosmopolitische in diesem Land spielt sich nur in kleinen Einheiten ab, bei den Bankern, in internationalen Kirchengemeinden, bei den Uno-Leuten in Genf. Der Rest ist im Bergtal geblieben, auch wenn er an der Bahnhofstrasse geschäftet oder in einer Szenekneipe im Kreis 4 feiert.

 

Als wir nach zehn Jahren gingen, weil es ein sehr interessantes Angebot aus Deutschland gab, kamen die Nachbarn und drückten uns ihr Mitgefühl aus. Sie sagten nicht etwa, dass es ja schade sei, dass wir gingen, wo sich unsere Kinder doch angefreundet hätten. Nein, sie bedauerten uns, dass wir die Schweiz verliessen, sie empfanden den Wegzug aus einem Land, in dem nach ihrer Vorstellung alle Welt gerne leben würde, wie eine Bestrafung. «Müsst ihr wirklich gehen?» fragte eine Nachbarin voller Mitleid. Nein: Wir wollten.

Musharrafs Zeit läuft ab (Neue Zürcher Zeitung, 5. Juni 2007)

Der pakistanische Präsident versucht es allen recht zu machen: den Amerikanern als Partner im «Krieg gegen den Terror», seinen Generalskollegen und den fundamentalistischen Geistlichen im Land. In der Hauptstadt Islamabad stellen die Fundamentalisten der Lal Masjid, der Roten Moschee, die Macht des Zentralstaates zunehmend in Frage.

 

Da oben auf dem Dach der städtischen Kinderbibliothek stehen sie: Schwarz verschleierte junge Frauen, mit Bambusstöcken und Kalaschnikows bewaffnet, überwachen von dort die Masjal-Strasse im Zentrum von Islamabad. Sollte die Regierung Musharraf Polizisten oder Soldaten schicken, um das von religiösen Fundamentalistinnen besetzte Gebäude zu stürmen, haben die schwarzgekleideten sogenannten Ninjas gedroht, sich in die Luft zu sprengen. Vor dem Eingang der Jamia Hafsa, der zu einer Koranschule umfunktionierten Bücherei, neben der Roten Moschee und dem Hauptquartier des ISI, des gefürchteten pakistanischen Geheimdienstes Inter- Services Intelligence, stehen bärtige Männer. Fromme Sätze sind an die Mauer gemalt, aus den Zeiten, als hier noch die städtischen Bibliothekare und nicht die Fundamentalisten der Lal Masjid, der Roten Moschee, das Sagen hatten: «Allah liebt jene, die sanft sprechen» und «Allah mag jene, die ihr Wissen vermehren».

 

Eigene Gesetze

 

Ob Allah die Ninjas liebt, die jungen Frauen, die aus den frommen Tribal Areas, den Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan, in die säkular gesinnte Hauptstadt zogen? Bis zu 10 000 junge Männer und Frauen besuchen die Koranschulen der Lal Masjid. Sie haben Koran-Unterricht, lernen Suren zu rezitieren, besuchen Vorlesungen über islamisches Recht. Manche werden auch noch in weltlichen Fächern wie Mathematik und Geografie unterwiesen. In Islamabad sind sie eine hochgerüstete Gemeinschaft, die nach eigenen Gesetzen funktioniert und die Macht des Zentralstaates in Frage stellt.

 

Die Ninjas haben bereits eine Bordellbesitzerin entführt und gezwungen, ihr Tun als schändlich und unislamisch zu bezeichnen. Sie erklären den Besitzern der DVD-Läden den Krieg, wenn die nicht Pornofilme aus ihrem Sortiment entfernen. Ende Mai wurden gar vier pakistanische Polizisten an einer Strassensperre entwaffnet und gekidnappt. Die Regierung Musharraf, die sonst mit ihren Gegnern nicht zimperlich umgeht, lässt die Ninjas und die jungen Bärtigen in der Moschee gewähren. Im Grunde komme Musharraf der Ärger mit den Fundamentalisten ganz recht, sagen seine Kritiker, könne er doch dem westlichen Ausland zeigen, wie schwer es sei, dieses Land zu regieren, und sich einmal mehr als Garant einer fragwürdigen Stabilität profilieren.

 

Drinnen in der Lal Masjid sitzt ein bärtiger Mann mit einer Nickelbrille und einem Knie, das er beim Reden zappeln lässt. An der Wand sind ein halbes Dutzend Computer der Marke Dell montiert, CD-Rohlinge der Marke Maxwell liegen auf den Tischen. Werden in diesem stickigen Raum die Anweisungen von Schuh-Bombern, U-Bahn-Attentätern und Zug-Terroristen im fernen Europa koordiniert? Viele glauben, dass der Bärtige ein Verbindungsmann für den internationalen Terrorismus ist. Er beantwortet E-Mails, hantiert mit den zwei Handys und spielt auf seinem Blackberry. «Wir wollen doch nicht in die Steinzeit, und wir wollen auch nicht die Herrschaft der Geistlichen», sagt er mit einem für islamistische Radikale ungewöhnlichen Lächeln. Abdul Rashid Ghazi ist Vorsteher der Moschee und die personifizierte Herausforderung für den Staat und dessen Gewaltmonopol. «Wenn der Staat nicht die islamische Gesetzgebung anwendet, dann muss es die Gesellschaft tun», erklärt der 43-jährige Ghazi im weissen Gewand und mit einer trotz der schwülen Hitze wollenen Kopfbedeckung. Als die Gesellschaft versteht er sich, seine Ninjas und all jene, die dem Säkularstaat abgeschworen und sich der Religion zugewandt haben. Ghazi ist gegen «das System» und meint damit die herrschende Klasse des Militärs. Er wolle eine friedliche Revolution, einen Aufstand gegen das Establishment.

 

Erodierende Macht

 

Ghazi und sein Bruder, der Gelehrte Maulana Abdul Aziz, haben unter den Augen des Staates, den sie in seiner jetzigen Form zerstören wollen, eine Gegenwelt organisiert, die ihrer engen Vorstellung von einer islamischen Republik entspricht, die Pakistan erklärtermassen ja ist. Im Innenhof der einst vom Staat gebauten und von Herrschern wie Zia ul Haq und Geheimdienstoffizieren genutzten Moschee wehen die schwarzen Fahnen des Jihad, Händler verkaufen Audiokassetten mit Predigten pakistanischer Mullahs. Dass die Londoner U-Bahn-Attentäter Kontakte zu seiner Moschee gehabt haben sollen, weist Ghazi weit von sich und entgegnet, man mache doch keiner westlichen Universität einen Vorwurf, nur weil dort ein Attentäter des 11. September 2001 studiert haben könnte. In der Moschee bereiten sich Freiwillige auf einen Sturm durch die Polizei vor: Unter Blachen, die zwischen Eukalyptusbäumen gespannt sind, liegen Bewaffnete auf Teppichen, Ventilatoren drehen sich, auf einem Schild steht: «Kämpfe mit Allah!»

 

Wer hat in diesem Land das Sagen, wenn unter den Augen der Staatsgewalt solche gewaltbereiten Gegenwelten existieren? Noch halte Musharraf die Zügel in der Hand, sagen alle Diplomaten und Offiziellen, die ihn und die Entscheidungsmechanismen kennen. Aber seine Macht erodiert.

 

Abdul Rashid Ghazi in der Roten Moschee ist ein Bekannter von Usama bin Ladin. Heute habe er keinen Kontakt mehr mit diesem, behauptet Ghazi, seit 1998 habe er ihn gar nicht mehr getroffen und damals sei bin Ladin noch kein Terrorist gewesen. Unsinn ist das natürlich, denn 1998 tötete die Kaida bei Anschlägen auf amerikanische Botschaften in Ostafrika über 200 Personen. Ob bin Ladin denn überhaupt noch lebe. Doch, doch, er könne versichern, dass dieser wohlauf sei und die Berichte über bin Ladins gesundheitliche Probleme masslos übertrieben seien, erklärt Ghazi.

 

Uniform oder Anzug

 

Dass die Mehrheit der Seminaristen aus den Stammesgebieten kommen, ist kein Zufall. Seit britischen Kolonialzeiten wurden die Federal Administered Areas (Fata) als unregierbar angesehen. Erst als die konservativen Bewohner sich der Religion zuwandten und islamistische Ausländer beherbergten, die seit dem 11. September gesucht werden, kümmerte sich der Zentralstaat um sie: General Musharraf schickte Soldaten, die Häuser durchsuchten, Kaida-Terroristen Gefechte lieferten, Hunderte, wenn nicht Tausende töteten. Und der lächelnde Ghazi in Islamabad erklärte, jeder pakistanische Soldat, der in den Stammesgebieten falle, verwirke sein Anrecht auf eine muslimische Beerdigung, weil er seine Glaubensbrüder verfolgt habe.

 

Ghazi und seine Moschee liefern religiöse Indoktrination. Aber sie liefern auch Ordnung und Halt in einem System, das als feindlich, antiislamisch und korrupt erachtet wird. Mit ähnlichen Argumenten begannen die Taliban in Afghanistan ihren Feldzug gegen die Warlords am Hindukusch. Ghazi bezeichnet den Begriff Taliban als blosse Etikette. Aber es scheint ihn schon mit einem gewissen Stolz zu erfüllen, dass seine Ninjas und die anderen Seminaristen den Herrschenden Sorgen bereiten, auch wenn sich hartnäckig Gerüchte halten, die Ninjas seien eine Schöpfung der Geheimdienste. Egal, wer dahinter steht, die Ideologie und der Hass sind nicht gespielt. Die Amerikaner müssten verschwinden aus dem Irak, aus Afghanistan und aus Pakistan, sagt Abdul Rashid Ghazi. Den Einwand, dass amerikanische Hilfe hier zu Zeiten des Mujahedin-Kampfes gegen die Sowjets höchst willkommen war, lässt er nicht gelten: Die Amerikaner hätten aus Eigeninteresse gehandelt. «Wenn mich heute jemand angreift, dann lächle ich nicht blöd, sondern ich verteidige mich.» Für Menschen wie Ghazi ist schon der «American way of life» neben der amerikanischen Präsenz in Süd- und Zentralasien ein Angriff, den es mit Gewalt abzuwehren gilt.

 

Das Aufrechterhalten einer permanenten Bedrohung an der Westgrenze zu Afghanistan sichert dem Staatschef die Rückendeckung aus Washington. Er sei eben der Teufel, den man kenne, nicht besonders demokratisch, aber bemüht, sagen westliche Diplomaten. Die pakistanische Bürgergesellschaft beklagt den Demokratieverlust im Innern, der vom Westen, allen voran von den Amerikanern, mit dem Verweis auf übergeordnete Interessen wie den Weltfrieden toleriert wird.

 

Für die amerikanische Diplomatie ist Pakistan die dritte Front im «Krieg gegen den Terror», gleich nach dem Irak und Afghanistan. Das Land werde vom Militär regiert, egal ob Zivilisten oder Soldaten an der Macht seien, sagt Samina Ahmed von der International Crisis Group. Sie, die Tochter eines pakistanischen Offiziers, denkt, dass viele Soldaten überzeugt seien, der Staat habe den Interessen der Armee zu dienen und nicht umgekehrt.

 

Pervez Musharraf hat allen Grund, sich zu fürchten. Die Kaida trachtet ihm nach dem Leben, zwei Anschläge hat er schon überlebt. Im Nordwesten, in den Stammesgebieten, gilt er als Mann der Amerikaner. Die Taliban, die er nach Meinung des Afghanistan-Experten Ahmed Rashid aus Lahore immer noch bei Laune zu halten versucht, misstrauen ihrerseits einem Staatschef, der, um sein politisches Überleben zu sichern, mit dem Erzfeind zusammenarbeitet. Musharraf hat sich nie entschliessen können, ob er Soldat oder Zivilist ist. «Er muss jeden Morgen entscheiden, ob er eine Uniform oder einen Anzug anzieht», mutmasst eine westliche Diplomatin, die auch schon frühere pakistanische Staatschefs erlebt hat. Trotzdem möchte Musharraf wieder bei den Wahlen um das Präsidentenamt im Herbst kandidieren. Spürbaren Widerstand aus Washington gab es dagegen bis anhin nicht.

 

Das Militär gewährt Sicherheit

 

Samina Ahmed sieht die achtjährige Amtszeit von Musharraf auf ein schnelles und drastisches Ende zusteuern. «Jedes Militärregime hat eine bestimmte Lebensdauer, ist diese überschritten, geht es sehr schnell», sagt Ahmed. Sie vergleicht die Militärregierung mit einer lateinamerikanischen Junta, alle Entscheide würden innerhalb des engsten Kreises von Generälen getroffen, Musharraf sei deren Sprecher. Die Generäle stünden an einem Scheideweg: Entweder sie zögen ernsthafte Reformen in Betracht, oder sie müssten per Notstandsgesetzgebung regieren. «Die Fassade wird kollabieren», meint Ahmed und macht aus ihrer Missbilligung des Regimes kein Geheimnis.

 

Die pakistanische Militärexpertin Ayesha Siddiqa, die ein Buch über die Wirtschaftsmacht des pakistanischen Militärs geschrieben hat (Military Inc. Inside Pakistan's Military Economy, Karachi 2007), sagt, die gesamte Ökonomie sei von Militärs besetzt. Das Militär sei wie ein unkontrollierbares Tier, «die Macht des Militärs hat den Staat so durchsetzt, dass wir uns von der Möglichkeit eines demokratischen Pakistan verabschieden müssen», folgert sie. Etwa die Hälfte der 60-jährigen Geschichte Pakistans waren Zivilisten an der Macht, sonst Soldaten. «Doch sowohl Zivilisten als auch Soldaten haben eine Neigung, ihre Amtszeit zu verlängern», sagt Pervez Ikbal Cheema, Chef des regierungsnahen Think-Tanks Islamabad Policy Research Institute. Nur das Militär kann Pakistans Sicherheit gegenüber Indien gewährleisten und die strategischen Interessen in Zentralasien vertreten. Darum durchdringt das Militär alle Aspekte auch des zivilen Lebens. Die Vizekanzler der Universitäten sind Offiziere, das Militär handelt mit Getreide und betreibt Apotheken. Wer geschäften will, wer eine anständige medizinische Versorgung will, wer Posten im Staatswesen anstrebt, der muss sich gut stellen mit den Offizieren.

 

Einer, der dieses System kennt und der bereit ist, darüber zu reden, ist General Assad Durrani. Der heute 66-Jährige war Chef des MI, des militärischen Geheimdiensts, und Generaldirektor des gefürchteten Geheimdienstes ISI. In die Amtszeit des drahtigen, Dunhill-Zigaretten rauchenden Durrani fiel die amerikanische Unterstützung der Mujahedin, die in den Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan zogen. Nach Jahren als pakistanischer Botschafter in Deutschland und in Saudiarabien privatisiert er heute in seiner Villa auf einem Hügel im privilegierten Armee- Quartier von Rawalpindi.

 

Wenige Kilometer von Durranis Hügel, von dem aus der Blick in grüne Weiten geht, verbringt Präsident Musharraf seine Nächte in einem Armeelager. Das scheint sicherer zu sein als die Übernachtung im Präsidentenpalast in Islamabad. Durrani spricht über seine frühere Arbeit so, dass er keinen Geheimnisverrat begeht und doch zu erkennen gibt, dass er heute, mit zeitlichem Abstand, manches anders machen würde. Für ihn ist klar, dass Pakistan als «one-man show» betrieben wird, dass Musharraf den ISI kontrolliert und nicht umgekehrt. Die Privilegien des Militärs würden von den Offizieren leider nicht mehr hinterfragt, sondern plump verteidigt mit dem Hinweis, dass all die Vorteilnahme sich im Rahmen der Verfassung bewege. «Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung dieses Land geht, Geheimdienste haben keine Kristallkugel, in der sie die Zukunft lesen können», sagt Durrani fatalistisch. Dann fällt wieder der Strom in Rawalpindi aus. Die Klimaanlage brummt nicht mehr, und die schwüle Hitze kriecht zurück ins luxuriöse Wohnzimmer des Generals.

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